Eine Nahaufnahme der Interviewpartnerin Julika Stich.

Pausentaste Close Up – Julika Stich von Young Helping Hands

In unserem zweiten Teil der Close Up-Reihe sprechen wir mit Julika Stich, der Gründerin von Young Helping Hands.

Möchtest Du Dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Julika Stich. Ich bin Jahrgang 1981 und wohne zurzeit in Gießen. Ich bin staatlich anerkannte Erzieherin und habe "Außerschulische Bildung" an der Justus-Liebig-Universität in Gießen studiert. Im Jahr 2016 gründete ich "Young Helping Hands"- eine Netzwerkinitiative für Young Carers, für ehemalige Young Carers und für alle, die sich über dieses Thema informieren möchten. Der Hauptfokus liegt in der Öffentlichkeitsarbeit, da ich finde, dass noch viel mehr zu diesem Thema aufgeklärt werden sollte. 2023 habe ich mein erstes Kinderbuch "Tom passt auf Papa auf" veröffentlicht. Es ist ein Vorlesebuch für Young Carers für Kinder ab 4 Jahren.

 

Welches Familienmitglied hast Du gepflegt? Wie kam es dazu?

Meine Mutter hatte Multiple Sklerose. Die Krankheit brach bei ihr aus, als ich ungefähr 2 Jahre alt war. Die Übernahme der Pflegeverantwortung meiner Mutter kann ich rückblickend als schleichenden Prozess bezeichnen. Das bedeutet, dass ich im Alter von 7 Jahren kleine Tätigkeiten übernommen habe, die aber schon viel Verantwortung mit sich gebracht haben. Ein Beispiel aus dieser Zeit: Meine Mutter hatte einen Rollstuhl für drinnen und einen für draußen und immer, wenn sie nach draußen oder wieder rein wollte, musste sie sich umsetzen. Draußen war der Boden gepflastert und ich habe geschaut, dass meine Mutter nicht auf diesen harten Boden fällt. Das ist für mich die prägendste Erfahrung in dieser Anfangsphase, in der rückblickend bereits klar war, dass das zu viel Verantwortung für ein siebenjähriges Kind ist.

 

Was waren die größten Herausforderungen in der Zeit, in der Du die Pflegeverantwortung übernommen hattest?

Die größte Herausforderung begann, als ich zehn Jahre alt war. Da habe ich die Körper- und Intimpflege meiner Mutter übernommen. Ich würde sagen, dass dies auch heute noch sehr prägend für mich ist. Wenn man sich vorstellt, dass man mit vielen Situationen konfrontiert wird, die auch erwachsene pflegende Angehörige an ihre Grenzen bringen, kann man erahnen, wie herausfordernd und belastend das für Kinder ist. Heute würde ich klar sagen, dass kein Kind die Körper- und Intimpflege seiner Angehörigen übernehmen sollte. Da bin ich heute mit meiner Ansicht konsequent und dies immer wieder zu benennen, ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit.

Verantwortung hatte ich auch nachts oder wenn ich nicht zu Hause war. Das Gefühl, ständig in Rufbereitschaft zu sein, war eine große Herausforderung für mich. Denn wenn ich als Kind mit anderen gespielt habe oder in der Schule war, wusste ich nie, wie es meiner Mutter geht. In den Nächten bin ich oft an meine Grenzen gestoßen, da ich am nächsten Morgen wieder in die Schule musste und unausgeschlafen war. Rückblickend fühlt es sich so an, als hätte ich selbst ein Kind gehabt. Durch meine fachliche Ausbildung und meine Arbeit weiß ich heute, dass es hierfür einen Fachbegriff gibt, der sich "Parentifizierung" nennt und ich bin froh, dass ich das jetzt benennen kann und darf.

 

Wie hast Du das alles geschafft? Hattest Du manchmal noch Zeit für Freundinnen und Freunde und für Dich selbst?

Das ist eine gute Frage, die ich mir rückblickend stelle. In dieser Situation war es Normalität und oft hat mich vieles überfordert und ängstlich gemacht. Es ging so weit, dass ich als Kind und Jugendliche an Punkten war, an denen ich offensichtlich nicht mehr konnte. Oft habe ich nach Hilfe gesucht, bis dann der Zusammenbruch kam.

Kinder und Jugendliche können helfen und Verantwortung übernehmen, aber die Tätigkeiten, die Young Carers oft übernehmen, sind emotional und körperlich viel anspruchsvoller als beispielsweise einfach nur mal einkaufen zu gehen, die Spülmaschine auszuräumen oder eine Tasse Tee ans Bett zu bringen.

 

An welchen Stellen hast Du Dir Hilfe gesucht?

Ich habe nach Hilfe gesucht, aber diese Suche war eher ein unsichtbarer Versuch. Mein Zusammenbruch, den ich schon erwähnt hatte, war fast schon ein Hilfeschrei – auch wenn das jetzt drastisch klingen mag. Es war meine Art zu sagen: „Ich kann nicht mehr! Schaut hin, ich brauche Hilfe!” Oft hat sich das aber sehr unkontrolliert ausgedrückt, das heißt, ich war sehr oft überfordert oder habe schnell weinen müssen. Mein Umfeld konnte das nicht richtig deuten. Als Familie haben wir viel zu spät professionelle Hilfe – wie den ambulanten Pflegedienst oder einen familienunterstützenden Dienst – angenommen. Ich habe zwar immer wieder geäußert, dass ich überfordert bin, aber – das muss ich jetzt so ganz deutlich erwähnen – viele haben einfach nicht hingehört.

Für die Zukunft ist es wichtig, dass wir besser hinschauen und handeln. Denn wir wissen durch Studienergebnisse, die es zum Glück heute gibt, dass 1-2 Kinder pro Schulklasse zu Hause Pflegeverantwortung übernehmen. Ich bin froh, dass mittlerweile auf diesem Gebiet geforscht wird und freue mich, dass zukünftig mehr Hilfe möglich ist.

 

Welche Tipps würdest Du jungen Pflegenden mit auf den Weg geben?

Young Carers dürfen und sollen über ihre Situation sprechen. Meist erkennen sie sich nicht als pflegende Angehörige. Oft ist es hilfreich, sich erstmal zu fragen: Bin ich Young Carer? Wenn du eine Person in deinem Umfeld hast, die erkrankt ist – das kann eine körperliche oder seelische Erkrankung sein – übernimmst du oftmals Verantwortung, die andere in deinem Alter nicht tragen. Trau dich und erkenne, dass es manchmal zu viel für dich sein kann. Wenn du eine Person in deinem Umfeld hast, die damit sensibel umgehen kann, dich ernst nimmt und das Gespräch nicht vorschnell bewertet, dann vertraue dich ihr an und sprich mit ihr über deine Situation.

Es kann dir auch helfen, sich an Mitarbeitende von fachlichen Stellen zu wenden. Mittlerweile gibt es bundesweite Angebote und wichtige Onlineangebote, aber auch pädagogische Beratungsstellen direkt vor Ort.

Personen, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit erkrankten Angehörigen kennen, rate ich immer wieder hinzuschauen und bei Bedarf mit den jungen Menschen zu sprechen. Denn was Young Carers vor allem brauchen, sind: Verständnis und ein offenes Ohr. Beim Zuhören hilft es, auf eine Bewertung zu verzichten, sich Zeit zu nehmen und einfach da zu sein.

Hauptziel sollte sein, die Pflegeverantwortung umzuverteilen. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen: Kinder und Jugendliche, die Pflegeverantwortung übernehmen, dürfen keineswegs die Lücken im Pflegesystem füllen.