Die „versteckten Leben“ von pflegenden Studierenden

Am 1. April hat das Sommersemester 2024 an deutschen Universitäten begonnen. Für viele Erstsemester beginnt mit dem Studium ein neuer Lebensabschnitt. Wer denkt nicht direkt an tolle Studierendenpartys, neue Bekanntschaften, interessante Vorlesungen und eine aufregende Studentenstadt. Von Parchim nach Heidelberg, von Kassel nach Hamburg oder von Meppen nach München – viele junge Menschen ziehen zum Studium weit weg aus ihren Heimatregionen, nehmen ein Stück weit Abschied vom Elternhaus, kümmern sich jetzt vor allem um die eigene Berufs- und Lebensplanung.

 

Pflege und Studium – Kein Randphänomen

Die Realität von pflegenden Studierenden sieht vollkommen anders aus als die ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen. Viele überlegen es sich gründlich, bevor sie ein Studium beginnen: Kann oder darf ich meine Familie mit der Pflege des chronisch mehrfachbehinderten Bruders alleine lassen? Wie kann ich eine Wohnung in München finanzieren, wenn ich neben der Pflege meiner dementen Mutter fast keine Zeit für einen Nebenjob finde? Kann ich weite Pendelwege zum Studienort mit der Pflege zu Hause überhaupt zeitlich vereinbaren? Generell: Schaffe ich die zeitliche, finanzielle und emotionale Mehrfachbelastung von Pflege und Studium?

Dabei sind pflegende Studierende kein Randphänomen. Das zeigen die aktuellsten Daten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Nach Daten der „Studierendenbefragung in Deutschland“ aus dem Sommersemester 2021 gaben ca. 12 Prozent der Studierenden an, eine nahestehende Person im privaten Umfeld zu pflegen. Damit ist die Gruppe der pflegenden Studierenden größer als die Gruppe der Studierenden mit Kind oder Kindern (8 Prozent).[1] Studierende mit Pflegeaufgaben kümmern sich vor allem um Familienangehörige (82 Prozent), Personen aus dem Freundes -und Bekanntenkreis (8 Prozent) und sowohl um pflegebedürftige Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis sowie aus der Familie (10 Prozent). Pflegende Studierende sind nach der Befragung aus dem Jahr 2021 zudem häufiger in Fernstudiengängen eingeschrieben und besuchen etwas seltener Präsenzstudiengänge als nicht-pflegende Kommilitoninnen und Kommilitonen.

 

„Versteckte Leben“

Trotz der beträchtlichen Zahl sind pflegende Studierende bisher nicht sonderlich sichtbar in der deutschen Hochschullandschaft. In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wird genauer beleuchtet, welchen Belastungen pflegende Studierende ausgesetzt sind und warum diese häufig unsichtbar bleiben. Die Soziologin Anna Wanka, die zu pflegenden Studierenden an der Goethe-Universität Frankfurt forscht[2], spricht in dem FAZ-Artikel von „versteckten Leben“. Pflegende Studierende hätten häufig keine Zeit für Aktivitäten mit Kommilitoninnen und Kommilitonen. Darüber hinaus sei die Pflege von Angehörigen und Nahestehenden oftmals schambehaftet. Das könne, so Wanka weiter, dazu führen, dass pflegende Studierende sich gegenüber nicht-pflegenden Studierenden isoliert und entfremdet fühlten. Viele Lehrende und Kommilitoninnen und Kommilitonen wüssten deshalb nichts von der Doppelbelastung der Studierenden.

Pflegenden Studierenden fehle neben der Zeit auch die Kraft für Hobbies. „Die Studenten versuchen aber, das Studium um jeden Preis nicht darunter leiden zu lassen, dass sie pflegen,“ wird Wanka in der FAZ zitiert. Die „Studierendenbefragung in Deutschland“ aus dem Jahr 2021 bestätigt dies. Nach diesen Daten wenden pflegende Studierende etwas mehr Zeit für ihr Studium auf als nicht-pflegende Studierende (Lehrveranstaltungen und Selbststudium). Trotzdem bliebt häufig die Herausforderung bestehen: Wie kann ich Präsenzpflichten, feste Abgabefristen und starre Studienstrukturen mit nicht planbaren Pflegeaufgaben unter einen Hut bringen?

 

Vereinbarkeit von Pflege und Studium verbessern

Um Studierenden die Vereinbarkeit von Pflege und Studium besser zu ermöglichen, spricht Anna Wanka in der FAZ davon, dass Seminare und Prüfungsregeln flexibler gestaltet, Stipendien nach pflegerischen Gesichtspunkten vergeben und mehr Onlinelehre eingeführt werden könnte. Wanke empfiehlt ebenfalls den Blick nach Großbritannien zu richten, wo Universitäten bereits Pflegebedarfe bei ihren Studierenden vor Semesterbeginn abfragen würden.     

Das BMFSFJ hat weitere Unterstützungsangebote und Informationsmaterialien für pflegende Studierende in einem Flyer zusammengeführt. So haben Studierende mit pflegebedürftigen Angehörigen häufig auch die Möglichkeit, das Studium zu unterbrechen oder in Teilzeit zu studieren. Darüber hinaus können BAföG-Berechtigte, die sich um nahe Angehörige (ab Pflegegrad 3) kümmern, auch noch über die Förderungshöchstdauer hinaus BAföG erhalten.

Das BMFSFJ hat im Jahr 2022 zusätzlich ein digitales Hochschulpaket für Hochschulpersonal erstellt. Das Ziel des Hochschulpakets besteht darin, pflegende Studierende auf bereits vorhandene Hilfsangebote, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hochschule, aufmerksam zu machen. Das Hochschulpaket hat fünf unterschiedliche Bausteine:

1.) Informationen zur Pausentaste: Was ist das Projekt Pausentaste? Hier findet man grundlegende Informationen.

2.) Hintergrundinformationen: Was wissen wir über pflegende Studierende? Mit kurzen Hintergrundinformationen informiert das Projekt Pausentaste über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Situation von pflegenden Studierenden.

3.) Vorschläge zur Unterstützung: Wie kann es gelingen, pflegende Studierende besser zu unterstützen und zu erreichen? Mit Vorschlägen zur Unterstützung gibt das Projekt Pausentaste Anregungen.

4.) Plakate: Die Plakate enthalten einen Platzhalter für die Kontaktdaten des hochschuleigenen Unterstützungsangebots.

5.) Social-Media-Vorlagen: Die Social-Media-Vorlagen können genutzt werden, um über hochschuleigene Kanäle auf Veranstaltungen zur Thematik aufmerksam zu machen.

 


[1] In der Studierendenbefragung 2021 wurden Pflegeaufgaben von Studierenden zum ersten Mal abgefragt, weshalb Vergleichswerte im Zeitverlauf noch nicht vorliegen. 

[2] Zum Forschungsprojekt „InterCare“, das junge pflegende Menschen in Ausbildung sowie Studium in den Mittelpunkt rückt https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/volkswagenstiftung-foerdert-erforschung-der-situation-pflegender-junger-menschen-mit-12-millionen-euro/.